Her Brother (1960)
Ein Film von Kon Ichikawa
Bewertung: 8 von 10 Punkten = Sehr gut!
Ototo
Genre: Gendai-geki, Shomin-geki
Regie: Kon Ichikawa
Darsteller: Keiko Kishi (Gen), Hiroshi Kawaguchi (Hekiro), Kinuyo Tanaka (Mother), Masayuki Mori (Father), Kyoko Kishida (Mrs. Tanuma), Noburo Nakaya (Patrolman), Kyoko Enami (Nurse Miyata), Jun Hamamura (Doctor), Hikaru Hoshi (Owner of hiring horse), Juzo Itami (Son of Factory Owner), Noriko Hodaka (Nurse), Takaya Hijikata, Namie Iso, Tatsuo Ito, Koichi Ito, Kazuo Mori, Yuji Moriya, Akira Natsuki (Cop), Masatoki Sasaki, Kazutoyo Shinozaki, Tetsuro Takeuchi, Kisao Tobita, Hikaru Tomoda, Tetsuya Watanabe, Akira Yokoyama
Drehbuch: Yoko Mizuki (Buch: Aya Koda)
Kamera: Kazuo Miyagawa
Musik: Yasushi Akutagawa
Daiei Studios, 93 Minuten, Color
Ototo
Genre: Gendai-geki, Shomin-geki
Regie: Kon Ichikawa
Darsteller: Keiko Kishi (Gen), Hiroshi Kawaguchi (Hekiro), Kinuyo Tanaka (Mother), Masayuki Mori (Father), Kyoko Kishida (Mrs. Tanuma), Noburo Nakaya (Patrolman), Kyoko Enami (Nurse Miyata), Jun Hamamura (Doctor), Hikaru Hoshi (Owner of hiring horse), Juzo Itami (Son of Factory Owner), Noriko Hodaka (Nurse), Takaya Hijikata, Namie Iso, Tatsuo Ito, Koichi Ito, Kazuo Mori, Yuji Moriya, Akira Natsuki (Cop), Masatoki Sasaki, Kazutoyo Shinozaki, Tetsuro Takeuchi, Kisao Tobita, Hikaru Tomoda, Tetsuya Watanabe, Akira Yokoyama
Drehbuch: Yoko Mizuki (Buch: Aya Koda)
Kamera: Kazuo Miyagawa
Musik: Yasushi Akutagawa
Daiei Studios, 93 Minuten, Color
Mit dem vorliegenden Film “Her Brother” konnte sich Kon
Ichikawa endgültig als einer von Japans großen Filmemacher seiner Generation
etablieren. Schon zuvor hatte der Regisseur durch zahlreiche Werke wie „The
Harp of Burma“ oder „Odd Obsession“ einiges an Kritikerlob einheimsen können
und erhielt sogar internationale Preise, wie den San Giorgio-Preis bei den
Filmfestspielen von Venedig und einen Golden Globe in den USA.
Doch keiner von Ichikawas Filmen wurde zuvor von japanischer Kritikerseite so einstimmig in den höchsten Worten gelobt, wie „Her Brother“. Auf japanischen Festivals wurde der Films förmlich mit Preisen überschüttet, so dass Kon Ichikawa nicht nur bei den „Blue Ribbon Awards“ und den „Mainichi Film Concours“, sondern auch bei den prestigeträchtigen Kinema Junpo-Awards jeweils den Preis für den besten Film und die beste Regie erhielt.
Das Ansehen des Films ist in Japan auch heute noch so gewaltig, dass die graue Eminenz des japanischen Kinos Yoji Yamada im Jahre 2010 ein gleichnamiges Remake inszenierte, mit welchem er zugleich eine Hommage an Kon Ichikawa inszenierte, um dem Regisseur seine Respekt zollte.
Auch im Ausland, bei den Filmfestspielen von Cannes, wurde der Film für seine brillante Inszenierung mit einer „Special Mention“ des „Technical Grand Prize“ geehrt, doch überraschenderweise berichtete Ichikawa hinterher, dass der Film dort ansonsten nicht sonderlich gut ankam und bald schon als Randnotiz beiseite gelegt wurde.
Und tatsächlich: Sieht man sich „Her Brother“ heute an, so muss man sich eingestehen, dass der Film, abseits der technischen Aspekte, weit weniger ambitioniert erscheint, als viele von Ichikawas berühmteren Werken wie etwa der brillante „Fires on a Plain“ mit seiner expressiven, von bitterer Ironie durchsetzten Darstellung der Absurdität des Krieges oder „Odd Obsession“ mit seinem Sarkasmus und seiner einnehmenden Melancholie.
„Her Brother“ hingegen mutet wie ein fast klassischer Shomin-geki an, ein Film über die japanische Mittelklasse also, dessen größte Ambition es ist, ein „Stück aus dem Leben“ („Slice of Life“) zu erzählen. Ein Genre, welches wie kaum ein anderes die Unterschiede zwischen westlichen und japanischen Erzähltechniken offen legt und dessen in Japan gefeierte Strukturen schnell klar machen, wieso der Film in den westlichen Gefilden auf Ablehnung stieß.
Story:
Gen (Keiko Kishi) lebt gemeinsam mit ihrem rebellischen Bruder Hekiro (Hiroshi Kawaguchi) bei ihrem Vater (Masayuki Mori), der sich den ganzen Tag in sein Zimmer einsperrt, um seiner Tätigkeit als Schriftsteller nachzugehen, und der ultrareligiösen Stiefmutter (Kinuyo Tanaka), welche die beiden Geschwister immer wieder wegen ihres "unmöglichen" Verhaltens ausschimpft, aber aufgrund ihres schweren Rheumatismus nichts gegen die beiden unternehmen kann. In der Folge zieht sich der Bruder immer weiter von der Familie zurück, treibt sich mit falschen Freunden herum und gerät in Schlägereien. Als er schließlich von der Polizei beim Klauen erwischt wird, scheint er endgültig auf die schiefe Bahn geraten zu sein. Nur Gen steht weiterhin zu ihm und versucht ihren Bruder verzweifelt wieder auf die richtige Bahn zu bringen.
Kritik:
Die Geschichte von „Her Brother“ wirkt auf den ersten Blick äußerst flüchtig, wenn nicht sogar banal. In episodischer Struktur wird von dem Leben einer tapferen jungen Frau namens Gen und der Beziehung zu ihrem Bruder Hekiro erzählt. Diese Handlungsstruktur ist ein klassisches Produkt des Shomin-geki, indem oftmals, zugunsten einer sorgsamen Charakterisierung, auf einen roten Faden im konventionellen Sinne in der Handlung verzichtet wird.
Als Reaktion auf das Desinteresse des Vaters, der sich den ganzen Tag in seinem Büro zum Schreiben verbarrikadiert und der Dominanz der ultrareligiösen Stiefmutter, welche ihre Rheumatismus-Erkrankung zum gottgewollten Leid hochstilisiert, entzieht sich Hekiro immer mehr dem Einfluss der Eltern und gerät auf die schiefe Bahn, wodurch ihm seine Vormündigen bald schon ablehnend gegenüber stehen.
Nur Gen hält weiterhin zu ihrem Bruder, bezahlt bereitwillig den Schaden, den er anrichtet und tröstet ihn, wenn er den typischen Weltschmerz eines unverstandenen Jugendlichen empfindet. Letztendlich erweist sie sich - nicht ihr Bruder - schon bald als wahre Heldin des Films. Ihre Person mag hinter den Untaten des Bruders verblassen, doch in Wahrheit ist sie die deutlich stärkere Persönlichkeit.
Schon am Anfang, wenn Gen ihrem Bruder einen Regenschirm mitbringt und dabei von den eilenden Passanten achtlos zur Seite gestoßen wird und kurz darauf, wenn man sie zu Unrecht des Ladendiebstahls verdächtigt und der Kaufhaus-Detektiv sie sogar mit einer Peitsche bedroht, wird klar, welch schweren Stand sie als junge Frau in der japanischen Gesellschaft besitzt.
Trotzdem verliert sie nie die Courage oder ihren Tatendrang und meistert ihren komplizierten Alltag mit Bravour. Eine Heldin also, die stark an eine der Frauenfiguren aus einem Mikio Naruse-Film ähnelt, welche ebenfalls Tag für Tag schuften müssen und den Widrigkeiten des Alltags tapfer gegenüber stehen, um ihre Geliebten notdürftig versorgen zu können. Die letzte Einstellung des Films endet dann auch konsequenterweise mit einer Naruse-esken Sequenz.
Erschöpft von einem schweren Schicksalsschlag fällt Gen in Ohnmacht, steht aber sogleich wieder auf und schleppt sich zum Ausgang ihres Ruhelagers. Sie kann es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen und muss einfach weitermachen, um ihre Familie unterstützen. Ein so tragisches, wie kraftvolles Filmende, welches genauso auch aus einem Naruse-Film (Stichwort: „Sound of the Mountain“) stammen könnte.
Passend zu den farbenfrohen Charakteren sind die Schauspieler in „Her Brother“ auch großartig. Keiko Kishi spielt so nuanciert, wie kraftvoll, auch wenn man ihr die 17 Jahre ihrer Figur nicht ganz abnimmt. Auch toll ist Hiroshi Kawaguchi als Gen’s Bruder, ebenso wie auch Masayuki Mori als vergeistigter Vater, der in seinen kurzen Momenten im Film eine bemerkenswerte Intensität aus seiner eigentlich sehr passiven Rolle herausholt.
Doch die wohl spannendste Rolle verkörpert die legendäre Kinuyo Tanaka als ultrareligiöse Stiefmutter, die unermüdlich an ihrem Kreuz herumspielt und mit ihrer Scheinheiligkeit zuerst der negativ gezeichneteste Charakter im Film ist. Doch erstaunlicherweise erhält gerade sie am Ende einige Sympathiepunkte, wenn plötzlich die menschliche Seite hinter ihrer Maske aus gekünstelter Frömmigkeit für einen kurzen Moment hervorscheint.
Völlig gerechtfertigt erhielten sämtliche Hauptdarsteller des Films bei den „Mainichi Film Concours“ einen Preis für ihre Leistungen, wobei Keiko Kishi zusätzlich sogar noch mit „Blue Ribbon Award“ als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde.
Da die Schauspieler und die exzellent, wenn in Keiko Kishis Fall auch nicht sonderlich neuartig, gezeichneten Charaktere also über alle Zweifel erhaben sind, dann ist es wohl die Handlung des Films, die für viele Zuschauer einige Probleme bergen wird.
Denn Her Brother ist ein in seiner Struktur ganz dem Prinzip des "Slice of life" geschuldet. Eine Technik, die nicht an einer zusammenhängenden Handlung interessiert ist, sondern versucht, ein Stück aus dem Leben anhand kleiner Episoden und oftmals unzusammenhängender Ereignisse zu schildern. Eine Eigenart des Shomin-geki, welche dem westlichen Filmdramaturgie-Verständnis, welches auf dem Zusammenspiel von Aktion und Reaktion basiert, vollkommen wiederspricht.
Insofern erfüllen viele Sub-Plots in Her Brother keinen Zweck im Gesamtkonzept der Handlung, sondern dienen nur dazu, das Innenleben der Charaktere detaillierter zu veranschaulichen. Eine Vorgehensweise, die im Shomin-geki durchaus seine Berechtigung hat und das Ziel besitzt, ein glaubhaftes Abbild des gewöhnlichen Alltags und der Realität zu zeichnen.
Natürlich ist diese filmische Darstellung der Realität letztlich nur eine subjektive Projektion der Weltsicht des Künstlers, weshalb die besten Shomin-geki-Regisseure, allen voran natürlich Yasujiro Ozu, eine einzigartige Handschrift in jenen Filmen kultivierten. Gerade wegen dieser Stilisierung, welche der Weltsicht des jeweiligen Regisseurs entsprach, erreichten viele Shomin-geki ihre Authentizität und eine bemerkenswerte Weisheit.
Zumindest formal präsentiert auch Kon Ichikawa in seiner Inszenierung ein eigenwillig stilisiertes Abbild des zeitgenössischen Japans. Er erzählt seine Geschichte in gedämpften, aber meisterhaft texturierten Farben und einer schier atemberaubenden Mise-en-scène. In der Technik liegt letztlich auch das wahre Herzstück des Films und Meisterkameramann Kazuo Miyagawa verdient jede einzelne Auszeichnung für seine eleganten Kamerafahrten und die wunderschönen Landschaftsaufnahmen, in welchen er das Geschehen einfängt.
Bemerkenswert auch, wie gut Kon Ichikawa bis zum Ende des Films das treibende Feeling eines Shomin-geki hinbekommt, welches dem Film trotz seines langsamen Erzähltempos und der „banalen“ Handlung kurzweilig und unterhaltsam wirken lässt und ihm eine erleichternde Lockerheit und Freiheit verleiht. Dies könnte auch der Grund gewesen sein, wieso der Film bei den japanischen Kritikern so gut ankam, denn schließlich waren solche Filme in Mode, dies gerade deshalb, weil das Genre zum Zeitpunkt bereits auf dem absteigenden Ast war.
Leider hält Ichikawa diese Lockerheit und Strukturlosigkeit nicht bis zum Ende durch und opfert sie zugunsten eines melodramatischen letzten Drittels. Mit der Erkrankung des Bruders gewinnt der Film zwar an Tragik und einem deutlicher gezogeneren roten Faden, doch kaum an Tiefe. Ichikawa scheint hier mehr am großen Melodrama, als an inhaltlicher Innovation und einer intelligenten Botschaft interessiert.
Das Ende ist zweifellos bewegend, doch insgesamt erinnert es deutlich mehr an eine der klassischen Sterbebett-Szenen aus den weinerlichen Shimpa-Melodramen der Vorkriegsjahre, als an die wunderbare universelle Weisheit eines guten Shomin-geki wie etwa "Tokyo Story". Immerhin entflammt Ichikawa einen Funken bitterer Ironie, indem er zeigt, dass die Eltern erst dann die Qualitäten ihres Sohnes erkennen, als es für ihn schon zu spät ist.
Wegen dieses melodramatischen Filmendes kann man dem Film vielleicht vorwerfen, er wäre kein reiner Shomin-geki und inkonsequent in seiner Inszenierung, doch man sollte vorsichtig sein, ihm angeblich unnötige Subplots und seine gewollte Strukturlosigkeit vorzuwerfen.
Diese waren es wahrscheinlich damals (und wahrscheinlich auch noch heute), welche die Zuschauer abschreckten, doch letztlich ist es gerade dieser sich unprätentiös entfaltende Ausschnitt aus dem Leben der beiden Geschwister, der "Her Brother" seine Poesie verleiht und ihn die eigentümlich Atmosphäre eines Shomin-geki verlieh, welche das Genre zur vielleicht ehrwürdigsten und schönsten Filmgattungen der Welt macht.
Fazit:
"Her Brother" ist ein perfekt gespielter und eindrucksvoll stilisierter Shomin-geki, der in seiner lockeren Handlungsstruktur ganz dem Prinzip des "Slice of life" verpflichtet ist, wobei dieses Prinzip nicht bis zum Ende durchgehalten wird und in ein bewegendes, aber recht konventionelles Melodram mündet. Wegen seiner brillanten technischen Aspekte und den sorgsam charakterisierten Figuren dennoch ein "sehr guter" Film.
8 von 10 Punkten = Sehr gut!
Erstveröffentlichung auf "nippon-kino.net" am 27. 07. 2013
Geschrieben von Pablo Knote
Doch keiner von Ichikawas Filmen wurde zuvor von japanischer Kritikerseite so einstimmig in den höchsten Worten gelobt, wie „Her Brother“. Auf japanischen Festivals wurde der Films förmlich mit Preisen überschüttet, so dass Kon Ichikawa nicht nur bei den „Blue Ribbon Awards“ und den „Mainichi Film Concours“, sondern auch bei den prestigeträchtigen Kinema Junpo-Awards jeweils den Preis für den besten Film und die beste Regie erhielt.
Das Ansehen des Films ist in Japan auch heute noch so gewaltig, dass die graue Eminenz des japanischen Kinos Yoji Yamada im Jahre 2010 ein gleichnamiges Remake inszenierte, mit welchem er zugleich eine Hommage an Kon Ichikawa inszenierte, um dem Regisseur seine Respekt zollte.
Auch im Ausland, bei den Filmfestspielen von Cannes, wurde der Film für seine brillante Inszenierung mit einer „Special Mention“ des „Technical Grand Prize“ geehrt, doch überraschenderweise berichtete Ichikawa hinterher, dass der Film dort ansonsten nicht sonderlich gut ankam und bald schon als Randnotiz beiseite gelegt wurde.
Und tatsächlich: Sieht man sich „Her Brother“ heute an, so muss man sich eingestehen, dass der Film, abseits der technischen Aspekte, weit weniger ambitioniert erscheint, als viele von Ichikawas berühmteren Werken wie etwa der brillante „Fires on a Plain“ mit seiner expressiven, von bitterer Ironie durchsetzten Darstellung der Absurdität des Krieges oder „Odd Obsession“ mit seinem Sarkasmus und seiner einnehmenden Melancholie.
„Her Brother“ hingegen mutet wie ein fast klassischer Shomin-geki an, ein Film über die japanische Mittelklasse also, dessen größte Ambition es ist, ein „Stück aus dem Leben“ („Slice of Life“) zu erzählen. Ein Genre, welches wie kaum ein anderes die Unterschiede zwischen westlichen und japanischen Erzähltechniken offen legt und dessen in Japan gefeierte Strukturen schnell klar machen, wieso der Film in den westlichen Gefilden auf Ablehnung stieß.
Story:
Gen (Keiko Kishi) lebt gemeinsam mit ihrem rebellischen Bruder Hekiro (Hiroshi Kawaguchi) bei ihrem Vater (Masayuki Mori), der sich den ganzen Tag in sein Zimmer einsperrt, um seiner Tätigkeit als Schriftsteller nachzugehen, und der ultrareligiösen Stiefmutter (Kinuyo Tanaka), welche die beiden Geschwister immer wieder wegen ihres "unmöglichen" Verhaltens ausschimpft, aber aufgrund ihres schweren Rheumatismus nichts gegen die beiden unternehmen kann. In der Folge zieht sich der Bruder immer weiter von der Familie zurück, treibt sich mit falschen Freunden herum und gerät in Schlägereien. Als er schließlich von der Polizei beim Klauen erwischt wird, scheint er endgültig auf die schiefe Bahn geraten zu sein. Nur Gen steht weiterhin zu ihm und versucht ihren Bruder verzweifelt wieder auf die richtige Bahn zu bringen.
Kritik:
Die Geschichte von „Her Brother“ wirkt auf den ersten Blick äußerst flüchtig, wenn nicht sogar banal. In episodischer Struktur wird von dem Leben einer tapferen jungen Frau namens Gen und der Beziehung zu ihrem Bruder Hekiro erzählt. Diese Handlungsstruktur ist ein klassisches Produkt des Shomin-geki, indem oftmals, zugunsten einer sorgsamen Charakterisierung, auf einen roten Faden im konventionellen Sinne in der Handlung verzichtet wird.
Als Reaktion auf das Desinteresse des Vaters, der sich den ganzen Tag in seinem Büro zum Schreiben verbarrikadiert und der Dominanz der ultrareligiösen Stiefmutter, welche ihre Rheumatismus-Erkrankung zum gottgewollten Leid hochstilisiert, entzieht sich Hekiro immer mehr dem Einfluss der Eltern und gerät auf die schiefe Bahn, wodurch ihm seine Vormündigen bald schon ablehnend gegenüber stehen.
Nur Gen hält weiterhin zu ihrem Bruder, bezahlt bereitwillig den Schaden, den er anrichtet und tröstet ihn, wenn er den typischen Weltschmerz eines unverstandenen Jugendlichen empfindet. Letztendlich erweist sie sich - nicht ihr Bruder - schon bald als wahre Heldin des Films. Ihre Person mag hinter den Untaten des Bruders verblassen, doch in Wahrheit ist sie die deutlich stärkere Persönlichkeit.
Schon am Anfang, wenn Gen ihrem Bruder einen Regenschirm mitbringt und dabei von den eilenden Passanten achtlos zur Seite gestoßen wird und kurz darauf, wenn man sie zu Unrecht des Ladendiebstahls verdächtigt und der Kaufhaus-Detektiv sie sogar mit einer Peitsche bedroht, wird klar, welch schweren Stand sie als junge Frau in der japanischen Gesellschaft besitzt.
Trotzdem verliert sie nie die Courage oder ihren Tatendrang und meistert ihren komplizierten Alltag mit Bravour. Eine Heldin also, die stark an eine der Frauenfiguren aus einem Mikio Naruse-Film ähnelt, welche ebenfalls Tag für Tag schuften müssen und den Widrigkeiten des Alltags tapfer gegenüber stehen, um ihre Geliebten notdürftig versorgen zu können. Die letzte Einstellung des Films endet dann auch konsequenterweise mit einer Naruse-esken Sequenz.
Erschöpft von einem schweren Schicksalsschlag fällt Gen in Ohnmacht, steht aber sogleich wieder auf und schleppt sich zum Ausgang ihres Ruhelagers. Sie kann es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen und muss einfach weitermachen, um ihre Familie unterstützen. Ein so tragisches, wie kraftvolles Filmende, welches genauso auch aus einem Naruse-Film (Stichwort: „Sound of the Mountain“) stammen könnte.
Passend zu den farbenfrohen Charakteren sind die Schauspieler in „Her Brother“ auch großartig. Keiko Kishi spielt so nuanciert, wie kraftvoll, auch wenn man ihr die 17 Jahre ihrer Figur nicht ganz abnimmt. Auch toll ist Hiroshi Kawaguchi als Gen’s Bruder, ebenso wie auch Masayuki Mori als vergeistigter Vater, der in seinen kurzen Momenten im Film eine bemerkenswerte Intensität aus seiner eigentlich sehr passiven Rolle herausholt.
Doch die wohl spannendste Rolle verkörpert die legendäre Kinuyo Tanaka als ultrareligiöse Stiefmutter, die unermüdlich an ihrem Kreuz herumspielt und mit ihrer Scheinheiligkeit zuerst der negativ gezeichneteste Charakter im Film ist. Doch erstaunlicherweise erhält gerade sie am Ende einige Sympathiepunkte, wenn plötzlich die menschliche Seite hinter ihrer Maske aus gekünstelter Frömmigkeit für einen kurzen Moment hervorscheint.
Völlig gerechtfertigt erhielten sämtliche Hauptdarsteller des Films bei den „Mainichi Film Concours“ einen Preis für ihre Leistungen, wobei Keiko Kishi zusätzlich sogar noch mit „Blue Ribbon Award“ als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde.
Da die Schauspieler und die exzellent, wenn in Keiko Kishis Fall auch nicht sonderlich neuartig, gezeichneten Charaktere also über alle Zweifel erhaben sind, dann ist es wohl die Handlung des Films, die für viele Zuschauer einige Probleme bergen wird.
Denn Her Brother ist ein in seiner Struktur ganz dem Prinzip des "Slice of life" geschuldet. Eine Technik, die nicht an einer zusammenhängenden Handlung interessiert ist, sondern versucht, ein Stück aus dem Leben anhand kleiner Episoden und oftmals unzusammenhängender Ereignisse zu schildern. Eine Eigenart des Shomin-geki, welche dem westlichen Filmdramaturgie-Verständnis, welches auf dem Zusammenspiel von Aktion und Reaktion basiert, vollkommen wiederspricht.
Insofern erfüllen viele Sub-Plots in Her Brother keinen Zweck im Gesamtkonzept der Handlung, sondern dienen nur dazu, das Innenleben der Charaktere detaillierter zu veranschaulichen. Eine Vorgehensweise, die im Shomin-geki durchaus seine Berechtigung hat und das Ziel besitzt, ein glaubhaftes Abbild des gewöhnlichen Alltags und der Realität zu zeichnen.
Natürlich ist diese filmische Darstellung der Realität letztlich nur eine subjektive Projektion der Weltsicht des Künstlers, weshalb die besten Shomin-geki-Regisseure, allen voran natürlich Yasujiro Ozu, eine einzigartige Handschrift in jenen Filmen kultivierten. Gerade wegen dieser Stilisierung, welche der Weltsicht des jeweiligen Regisseurs entsprach, erreichten viele Shomin-geki ihre Authentizität und eine bemerkenswerte Weisheit.
Zumindest formal präsentiert auch Kon Ichikawa in seiner Inszenierung ein eigenwillig stilisiertes Abbild des zeitgenössischen Japans. Er erzählt seine Geschichte in gedämpften, aber meisterhaft texturierten Farben und einer schier atemberaubenden Mise-en-scène. In der Technik liegt letztlich auch das wahre Herzstück des Films und Meisterkameramann Kazuo Miyagawa verdient jede einzelne Auszeichnung für seine eleganten Kamerafahrten und die wunderschönen Landschaftsaufnahmen, in welchen er das Geschehen einfängt.
Bemerkenswert auch, wie gut Kon Ichikawa bis zum Ende des Films das treibende Feeling eines Shomin-geki hinbekommt, welches dem Film trotz seines langsamen Erzähltempos und der „banalen“ Handlung kurzweilig und unterhaltsam wirken lässt und ihm eine erleichternde Lockerheit und Freiheit verleiht. Dies könnte auch der Grund gewesen sein, wieso der Film bei den japanischen Kritikern so gut ankam, denn schließlich waren solche Filme in Mode, dies gerade deshalb, weil das Genre zum Zeitpunkt bereits auf dem absteigenden Ast war.
Leider hält Ichikawa diese Lockerheit und Strukturlosigkeit nicht bis zum Ende durch und opfert sie zugunsten eines melodramatischen letzten Drittels. Mit der Erkrankung des Bruders gewinnt der Film zwar an Tragik und einem deutlicher gezogeneren roten Faden, doch kaum an Tiefe. Ichikawa scheint hier mehr am großen Melodrama, als an inhaltlicher Innovation und einer intelligenten Botschaft interessiert.
Das Ende ist zweifellos bewegend, doch insgesamt erinnert es deutlich mehr an eine der klassischen Sterbebett-Szenen aus den weinerlichen Shimpa-Melodramen der Vorkriegsjahre, als an die wunderbare universelle Weisheit eines guten Shomin-geki wie etwa "Tokyo Story". Immerhin entflammt Ichikawa einen Funken bitterer Ironie, indem er zeigt, dass die Eltern erst dann die Qualitäten ihres Sohnes erkennen, als es für ihn schon zu spät ist.
Wegen dieses melodramatischen Filmendes kann man dem Film vielleicht vorwerfen, er wäre kein reiner Shomin-geki und inkonsequent in seiner Inszenierung, doch man sollte vorsichtig sein, ihm angeblich unnötige Subplots und seine gewollte Strukturlosigkeit vorzuwerfen.
Diese waren es wahrscheinlich damals (und wahrscheinlich auch noch heute), welche die Zuschauer abschreckten, doch letztlich ist es gerade dieser sich unprätentiös entfaltende Ausschnitt aus dem Leben der beiden Geschwister, der "Her Brother" seine Poesie verleiht und ihn die eigentümlich Atmosphäre eines Shomin-geki verlieh, welche das Genre zur vielleicht ehrwürdigsten und schönsten Filmgattungen der Welt macht.
Fazit:
"Her Brother" ist ein perfekt gespielter und eindrucksvoll stilisierter Shomin-geki, der in seiner lockeren Handlungsstruktur ganz dem Prinzip des "Slice of life" verpflichtet ist, wobei dieses Prinzip nicht bis zum Ende durchgehalten wird und in ein bewegendes, aber recht konventionelles Melodram mündet. Wegen seiner brillanten technischen Aspekte und den sorgsam charakterisierten Figuren dennoch ein "sehr guter" Film.
8 von 10 Punkten = Sehr gut!
Erstveröffentlichung auf "nippon-kino.net" am 27. 07. 2013
Geschrieben von Pablo Knote
Screenshots (spiegeln die Qualität der DVD wieder):
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